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Johannes Grashof:
Geschichte des Evangelischen Kirchenkreises Gladbach (1817-2000)

550 Seiten; geb.; 25,00 € (D); 49,00 sFr
ISBN 3-931395-17-0

Einleitung


Der Kirchenkreis Gladbach, seit dem 1. Januar 2000 heißt er "Kirchenkreis Gladbach-Neuss", zählt zu den großen Kirchenkreisen der Evangelischen Kirche im Rheinland. Mit seiner gegenwärtigen Fläche von 926 qkm, seinen 26 Kirchengemeinden und einer Anstaltsgemeinde rechnet er zu den fünf größten Kirchenkreisen der EKiR, nach Zahl der Gemeindeglieder von ca. 150000 und der 83 Pfarrstellen ist er der größte Kirchenkreis.

Auf dem Gebiet des linken Niederrheins gelegen, gehört der Kirchenkreis Gladbach(-Neuss) größtenteils zum Regierungsbezirk Düsseldorf und erstreckt sich von der niederländischen Staatsgrenze im Westen bis zum linken Rheinufer im Osten. Im Süden reicht er gegenwärtig in den Regierungsbezirk Köln hinein, bis an die Grenze der Stadt Jülich. Im Norden verlief seine Grenze früher von der deutsch-niederländischen Grenze bei Venlo bis zum Rhein bei Uerdingen und Friemersheim. Seit dem 1. April 1959 umfaßt dieses Gebiet zwei Kirchenkreise: im südlichen Teil den verkleinerten Kirchenkreis Gladbach, im nördlichen Teil den Kirchenkreis Krefeld.

Der Kirchenkreis Gladbach besteht seit der preußischen Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts und unterscheidet sich damit z.B. von Stadtkirchenkreisen wie Leverkusen oder Bad Godesberg, die durch Ausgliederung aus vormals größeren Verbänden entstanden sind, aber auch von Kirchenkreisen, die mit anderen zu neuen Einheiten zusammengelegt wurden, wie etwa die Kirchenkreise Meisenheim, Sobernheim und Bad Kreuznach zum Kirchenkreis An Nahe und Glan. Auf dem Gebiet des Kirchenkreises Gladbach konzentriert sich der rheinische Protestantismus in seiner ganzen Bandbreite: dominante reformierte Tradition, Spuren alteingesessenen Luthertums, Gemeinden, die sich zur Union zusammengeschlossen haben, sowie originäre Unionsgemeinden. Dörfliche Strukturen und Industriezentren existieren nebeneinander, Ortschaften mit hohem evangelischen Bevölkerungsanteil und mit extremer evangelischer Diaspora, Kirchengemeinden, deren Tradition ungebrochen bis in die Reformationszeit zurückreicht, sowie Gemeinden, die erst wenige Jahre alt sind. Die Region des Kirchenkreises Gladbach hat im Darstellungszeitraum mehrere Zuzugswellen erlebt, die auch das konfessionelle Gepräge veränderten.

Die heutige Gestalt des Kirchenkreises ist Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses. Folgende fünf Faktoren waren und sind maßgeblich für die Formung des Synodalgebietes:

  1. Die konfessionelle Zerstückelung des Landes nach dem Prinzip "cuius regio - eius religio" als Ergebnis der Konfessionskämpfe im 16. und 17. Jahrhundert. In der Region des Kirchenkreises Gladbach gab es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein dichtes Nebeneinander von rein evangelischen, rein katholischen sowie solchen Gebieten, in denen evangelische Gemeinden aufgrund vertraglicher Vereinbarung geduldet waren.
  2. Die Einführung der Religionsfreiheit unter französischer Herrschaft. Erstmals unterlagen Personen bei der Wahl ihres Wohnortes keinen konfessionellen Beschränkungen mehr. Dennoch waren nach dem Abzug der Franzosen weite Landstriche in der Region des Kirchenkreises Gladbach nicht in eine evangelische Gemeinde eingepfarrt.
  3. Die Zuwanderungsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Die Industrialisierung zog viele Protestanten vom rechten Rheinufer in die Region. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Tausende von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Reiches dazu. Das Anwachsen der evangelischen Bevölkerung führte zur Teilung und Neugründung von Kirchengemeinden - letztlich auch zu einer Teilung des gesamten Kirchenkreises.
  4. Arrondierungen aufgrund von verwaltungstechnischen und seelsorgerlichen Erfordernissen. Die Grenzen des Kirchenkreises änderten sich seit 1817 mehrfach durch einzelne Anpassungen an die politischen Verwaltungsgrenzen oder durch Umgemeindungen.
  5. Die Braunkohle. Durch den Braukohletagebau wurden und werden Ortschaften umgesiedelt. Dadurch verändert sich das südliche Synodalgebiet.

Idee und Zielsetzung

Bisher wurden erst wenige Versuche unternommen, die Geschichte eines rheinischen Kirchenkreises zusammenhängend darzustellen. Erstmals wird hier eine Längsschnittstudie vorgelegt, die den Zeitraum von 1817 bis 2000 umgreift, also von der Konstituierung der rheinischen Kirchenkreise unter preußischer Herrschaft bis an die Gegenwart heran.

Die oben angedeuteten Strukturmerkmale heben eine historische Arbeit zum Kirchenkreis Gladbach über ein rein regionalhistorisches Interesse heraus. Sie bildet eine "rheinische Kirchengeschichte in nuce" ab. Aus der hier gewählten Darstellungsperspektive können Entwicklungslinien rheinischer Kirchengeschichte auf neue Weise transparent werden.

Für diese Vermutung sprechen die Funktion und der Charakter des Kirchenkreises als mittlere Ebene im Gefüge landeskirchlich-evangelischen Kirchenwesens: Der Kirchenkreis hat Schnittstellenfunktion: in preußischer Zeit als kirchliche Verfassungsebene zwischen den Kirchengemeinden, der provinzialkirchlichen Ebene und der konsistorialen Administration, seit Bildung der EKiR zwischen Kirchengemeinden und Landeskirche. Hier begegnen sich der reformierte ekklesiologische Anspruch, die Kirche sei in der Gemeinde repräsentiert, mit dem gesetzgebenden und kirchenleitenden Anspruch einer im juristischen Sinne selbständigen Landeskirche. Auf der Ebene des Kirchenkreises treffen unterschiedliche Interessenlagen zusammen, so daß Streitfragen hier ein besonderes Profil erhalten. Zu fragen ist, ob der Kirchenkreis mehr als diese Schnittstelle ist: Gewinnt er als "Handlungsebene" Konturen, die ihn als eigene Größe identifizierbar machen? Verkörpert er im wörtlichen Sinn eine Kreisgemeinde?

Die EKiR ist geprägt von der im 16. Jahrhundert wurzelnden presbyterial-synodalen Verfassungstradition. Die Darstellung der Geschichte des Kirchenkreises Gladbach läßt transparent werden, in welchem Maße und zu welcher Zeit diese Tradition Identifikationsmerkmal für die Menschen und für das kirchliche Handeln war. Ist sie Ausdruck eines spezifisch rheinischen Frömmigkeitsprofils? Oder läßt sich ihre Bedeutung für das rheinisch-evangelische Kirchenwesen anders erklären?

Unter den vorgenannten Gesichtspunkten wird hier ein noch junges Forschungsfeld bearbeitet. Es liegen Einzeldarstellungen zu Epochen und Kirchengemeinden vor, historische Längsschnitte zu rheinischen Kirchenkreisen existieren kaum. Erst in den letzten Jahren ist der Kirchenkreis vermehrt in das Interesse (kirchen-)geschichtlicher Forschung gerückt. Heinz-Jürgen Trütken-Kirsch führt als Profanhistoriker diesen Umstand auf eine forschungsgeschichtliche Perspektivänderung zurück, die Ende der siebziger Jahre einsetzte. Damals erweiterte sich das Blickfeld der historischen Forschung um die Regional- und Alltagsgeschichte. Dieser Perspektivwechsel wurde in der kirchengeschichtlichen Forschung zunächst vor allem zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fruchtbar gemacht, um auf diesem Gebiet Erkenntnisse zu gewinnen, "die differenziertere Deutungen des Geschehens ermöglichen und in der Breite zu einer kritischen Überprüfung gängiger Einschätzungen des evangelischen Kirchenkampfes führen können". Hier war nach Einschätzung von Trütken-Kirsch ein "basisgeschichtlicher Ansatz" ebenso überfällig wie "die methodische Erweiterung einer theologiegeschichtlich zentrierten Betrachtung durch einen gesellschaftsgeschichtlichen Zugriff wünschenswert". Dieser Perspektivwechsel kann auch für andere Epochen fruchtbar gemacht werden. Zu einem besseren Verständnis kirchengeschichtlicher Zusammenhänge, zu ihrer differenzierten Erfassung und Bewertung ist es sinnvoll, eine Gesamtdarstellung in den Blick zu nehmen, zumal sich auf der untersten synodalen Ebene Diskussionsprozesse in Nähe zu den Menschen vor Ort entwickeln. So werden tiefere Einsichten in provinzial- bzw. landeskirchliche Entscheidungsprozesse gewonnen.

Die vorliegende Arbeit verfolgt in erster Linie ein historiographisches Interesse. Der Kirchenkreis Gladbach wird in seiner äußeren und inneren Entwicklung dargestellt. Angenommen wird, daß die innere Entwicklung weitgehend von der äußeren abhängig ist. Synodalverhandlungen und -entscheidungen hängen nicht zuletzt davon ab, wer verhandelt und entscheidet. Bevölkerungsentwicklung, Konfessions-, Wirtschafts-, Sozialstruktur und die Bindung an bestimmte Traditionen bestimmen die Entscheidungsprozesse der Synode.

Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile:
  1. die Vorgeschichte des Kirchenkreises hinsichtlich der komplexen territorialen Herrschaftsverhältnisse und der regionalen kirchlichen Organisationsstrukturen, die sich in Abhängigkeit von den politischen Strukturen herausgebildet haben,
  2. der Kirchenkreis in seiner äußeren Gestalt: die Bevölkerungsentwicklung seiner Region, die Zirkumskription im Wandel der Zeit, ergänzt durch einen Blick auf die Entwicklung seiner Verwaltung,
  3. die Geschichte des Kirchenkreises Gladbach und seines ihm eigenen kirchlichen und theologischen Profils als Schwerpunkt der Arbeit.

Ausgehend von den konstitutiven äußeren Bedingungen wird die "Handlungsebene Kirchenkreis" zum Gegenstand der Darstellung. Dazu gehören: die Kreissynode als ihr beschlußfassendes Organ und ihr Moderamen bzw. KSV sowie Kommissionen und Ausschüsse. Auf Verwaltung und diakonische Einrichtungen, auf Kirchengemeinden und Vereine, auf andere kirchliche und außerkirchliche Handlungsebenen ist einzugehen, soweit kreiskirchliche Entscheidungen auf diese Ebenen zurückwirken oder von diesen ausgelöst, beeinflußt oder berührt wurden. Kirchen- und theologiegeschichtliche, profanhistorische und sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte werden berücksichtigt.

Für ein Profil des Kirchenkreises ist zweierlei konstitutiv.
1. die regionaltypische Komponente: Das Gesicht des Kirchenkreises wird geprägt durch regionale Gegebenheiten, seine geographische Lage, soziale Struktur und konfessionelle Zusammensetzung;
2. die zeittypische Komponente: Der Kirchenkreis partizipiert an den gesellschaftlichen, politischen und geistigen Strömungen seiner Mitwelt und spiegelt so die jeweilige Epoche.

Aus beiden Komponenten erwächst das Charakteristische: Geschehnisse, die über die Region hinausreichen, oder sich vom Zeittypischen abheben. Dafür ist ein gelegentlicher Blick auf andere Kirchenkreise nötig. Eine umfassende vergleichende Darstellung zu anderen Kirchenkreisen setzte entsprechende Gesamtdarstellungen anderer Kirchenkreise voraus.

In Auswahl sind einige Quellentexte beigefügt, um das Dargestellte zu ergänzen und zu illustrieren. Dargestellt wird der Zeitraum von 1817 bis 2000. Die rheinischen Kirchenkreise, wie sie als kirchliche Körperschaften bis heute existieren, wurden unter preußischer Verwaltung gebildet. Früher vorhandene kirchliche Organisationsformen sind in der Vorgeschichte zu behandeln. Den Endpunkt bildet das Jahr 2000, in dem die Umbenennung des Kirchenkreises Gladbach in Gladbach-Neuss rechtskräftig wurde. Es ist sinnvoll, den Darstellungszeitraum zu periodisieren, da oft mehrere Handlungs- und Themenstränge über Jahre hinweg parallel nebeneinander herlaufen und in eine Folge von Querschnitten aufgeteilt werden können. Diese Periodisierung wird immer anfechtbar sein. Soll hier nach kirchengeschichtlichen oder nach profangeschichtlichen Gesichtspunkten verfahren werden? Im Allgemeinen folgt die Periodisierung profanhistorischen Epochen. Jeder Zeitabschnitt wird in einem gesonderten Kapitel abgehandelt. Davon abweichend wird der Streit mit dem preußischen Staat um das rheinische Vätererbe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wegen seiner Dominanz, in einem eigenen Kapitel behandelt.

Insgesamt vollzogen sich kirchlicher Diskurs und kirchliches Handeln in einem Spannungsfeld verschiedener Determinanten, zwischen innerkirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen, zwischen geistigen und religiösen Zeitströmungen. Innerhalb dieser Spannungsfelder vertrat oder suchte der Kirchenkreis seine Position. Die Struktur der Kapitelüberschriften dient dazu, diese Spannungsfelder sichtbar zu machen.

Zur Quellenlage

Den drei Teilen liegt unterschiedliches Material zugrunde. Für die Vorgeschichte wird im Wesentlichen auf den Ertrag der vorhandenen Literatur zurückgegriffen. Der zweite Teil wertet statistisches Datenmaterial aus, vor allem den umfänglichen Schriftverkehr zur Zirkumskription der Kirchengemeinden und Kirchenkreise beim Düsseldorfer Regierungspräsidium. Der dritte Teil beruht vor allem auf den Protokollen der Kreissynode. Sie sind von 1817 an überliefert. Von den Synodalprotokollen ausgehend werden andere Quellen erschlossen: Schriftverkehr, KSV-Protokolle und andere Niederschriften. Für die Zeit zwischen September 1933 und Dezember 1945 wird auf Niederschriften jener Organe zurückgegriffen, die - unbeschadet ihrer jeweiligen Legitimation - an die Stelle der nicht mehr stattfindenden Kreissynoden traten: KSV, Bekenntnissynode und Bruderrat, der Superintendenturverwalter. Im Zweiten Weltkrieg verbrannte das Archiv des Kirchenkreises Gladbach vollständig. Ebenso wurden die Akten des Kölner Konsistoriums größtenteils vernichtet. Parallelüberlieferungen finden sich in Gemeindearchiven und bei den Beständen kirchlicher und staatlicher Behörden. Die KSV-Protokolle überdauerten den Zweiten Weltkrieg in den Handakten des Superintendenten bzw. des Superintendenturverwalters. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Quellenlage punktuell schwierig: Manche Fragen müssen offen bleiben, weil es in ihrer Sache möglicherweise nie eine schriftliche Überlieferung gegeben hat: so etwa über die Anfänge der kreiskirchlichen Partnerschaft mit Eberswalde. In anderen Fällen konnten einige Details durch die Befragung von Zeitzeugen ergänzt werden. Ein besonderes Problem stellt die Überlieferung der Synodalprotokolle nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Bis 1976 wurden sie im Druck veröffentlicht. Doch fehlen hier oft die Superintendentenberichte und andere Anlagen, obwohl in den Protokollen auf sie verwiesen wird. Von 1977 bis 1989 sind die Protokolle für den Druck vorbereitet worden, jedoch nicht mehr Korrektur gelesen. In der Regel fehlen die Superintendentenberichte. Einzelne sind als maschinenschriftliche Anlage beigefügt. Das Protokoll vom 7. November 1992 wurde nie abgenommen und existiert bis zum Abschluß dieser Arbeit lediglich als Entwurf.